
Der Nachtschreck
Der Blickwinkel des Camcorders ist auf das Bett des jungen Paares gerichtet. Links ist noch die Tür des Schlafzimmers zu sehen, sie ist geöffnet und lässt einen Blick auf den Flur zu. Recht im Bild steht ein großer Kleiderschrank, in der Mitte das geräumige Bett. Das Paar liegt darin und schläft. Sie liegt im Bett links, er rechts. Es ist nachts, die Aufnahme schimmert in verwaschenem Grau.
Beide drehen sich hin und her, die Aufnahme wird im Zeitraffer abgespielt. Plötzlich wird sie wach. Sie setzt sich auf. Unten links zeigt die schnell laufende Cam-Uhr, dass sie mindestens zehn Minuten auf der Bettkante sitzt, regungslos. Mir läuft zum ersten Mal ein Schauer über den Rücken. Dann steht sie auf, neigt den Kopf seltsam mechanisch von links nach rechts und wieder zurück. Dann geht sie ums Bett herum zur Seite ihres Partners. Dort steht sie und schaut ihn mit nach rechts geneigtem Kopf an. Die Uhr am linken Bildrand zeigt mir: Sie steht dort Stunden. Ohne eine Bewegung. Anschließend verlässt sie mit einem mechanischen Gang das Schlafzimmer und verschwindet aus dem Bild. Die Aufnahme endet.
Puh, allein darüber zu schreiben bereitet mir schon ungute Zustände. Die Szene stammt aus einem der Filme “Paranormal Activity” – ich HASSE diese Filme. Ich hasse Horrorfilme allgemein und bin ganz froh, dass ich da zu Hause nicht alleine mit bin. Wir schauen solche Filme wirklich nie! Dieses eine Mal hat gereicht. Ich kann nämlich nächtelang nicht richtig schlafen. Doch manchmal muss es gar kein gruseliger Film sein, der mich nachts wach hält…
Vom Nachtschreck erschreckt
“Hilfeeeee, Mammaaaaaaaa, hillfeeeeee, Mammaaaaaaaaa” – wir sind kurz zuvor erst ins Bett, als ich gegen 23.30 Uhr von herzzereißenden und panischen Schreien abrupt geweckt werde. Ach Du scheiße, was ist das?, frage ich mich und springe innerhalb einer Millisekunde aus dem Bett. Sogleich setze ich mich in Bewegung, jemand mussin Not sein. Schnell wird mir klar, es ist unsere Große. Im Halbsprint springe ich über den Flur zum Zimmer schräg gegenüber, wo sie schläft. Ich knipse das Licht an und sehe sie, kreidebleich und in die hinterste Ecke ihres Betts gekauert.
Sie schreit aus Leibeskräften. Keines der nächtlichen “Gewimmer”, die ich gut kenne, nein. Das Kind muss gerade Todesängste ausstehen, das sehe ich ihr an. Sie starrt ins Leere, der Blick schweift umher, wie von Sinnen. Ich bekomme keinen Augenkontakt zu ihr, sie reagiert auf keine meiner Beruhigungsversuche. Es bleibt mir nur, die Szene auszuhalten bis sie vorüber ist – und damit auch den Schmerz und die Hilflosigkeit, die mich in dem Moment schier zu erdrücken drohen.
Ich halte durch, ihr zuliebe: Das Kind halb im Arm (es wehrt sich fast schon dagegen), halb auch nicht, bloß darauf bedacht, dass es sich nicht verletzt und vielleicht doch irgendwie spürt, dass ich bei ihr bin. Nach fünf bis zehn Minuten ist der Spuk vorbei. Sie berappelt sich, als hätte sie jemand wach gerüttelt. Verwirrt schaut sie durch die Gegend, nun aber deutlich spürbar in einem aufgewachten Zustand. Ich setze sie kurz auf die Toilette und bin dankbar, dass sie sich beim Hintragen an mich klammert. Sie reagiert wieder auf mein Bemühen. Im Anschluss legen wir uns gemeinsam hin und ich warte, bis sie auch wieder wirklich tief eingeschlafen ist.
Nachtschreck oder Erinnerung?
Natürlich googlen wir fleißig und es ist auch nicht die einzige derartige Situation, die wir mit ihr erleben. Zwischen ungefähr dem zweiten und dem sechsten Lebensjahr durchleiden etwa ein Drittel der Kinder das Phänomen vom “Nachtschreck” bei Kindern. Vorübergehende zusammenhanglose Erregungszustände, an denen das zentrale Nervensystem Schuld ist. Es bildet sich aus und verursacht in diesen Situationen offenbar eine Art Kurzschluss. An sich ungefährlich und als Elternteil kann man auch nur dabei sein und aufpassen, dass sich niemand verletzt.
Soweit die medizinische Erklärung. Und dann begegnete mir Dr. Jim Tucker aus den USA. Natürlich nicht persönlich, nein, nur in Form eines Buches. Doch die finde ich vom Fleck weg faszinierend. Es ist die Art von Buch, die ich gar nicht wieder weglegen möchte. Ich stelle beim Lesen auch zunächst überhaupt keine Verbindung her zu meinem persönlichen Umfeld, geschweige denn zu meinen Kindern. Doch ich erzähle meiner Frau von dem Buch und von dem, über das Jim Tucker forscht: Reinkarnation, Wiedergeburt.
Ich würde weder mich noch meine Frau als Esoterik-Anhänger beschreiben. Doch das erste, was meine Frau zu mir sagt, während sie mich mit einem zugleich schockierten wie überzeugten Ausdruck im Gesicht anschaut, ist:
“Als Eni ihren ersten Nachtschreck hatte und nach Mama schrie, wusste ich, sie meint nicht mich”
Rumms. Das wirkt nach. Ich muss das erstmal sacken lassen. “Meinst Du wirklich?”, frage ich sie, halb irritiert, halb fasziniert. “Ich bin mir sicher. Ich dachte nur, dass Du das sowieso nie glauben würdest…”, antwortet sie. Im Anschluss haben wir ein langes, offenes Gespräch und durch und durch bereicherndes Gespräch über Kinder, die zwischen etwa zwei und sechs Jahren von Situationen und Begebenheiten berichten, die sie nie erlebt haben, zumindest nicht in diesem Leben.
Kinder erinnern sich
Dr. Jim Tucker ist Mediziner und untersucht derlei Fälle in den USA und weltweit. Es geht um Kinder, die möglicherweise die Seele eines bereits verstorbenen Menschen in sich tragen. In den ersten Lebensjahren kann sich das unterschiedlich äußern, unter anderem auch durch nächtliches Durchleben schrecklicher Situationen aus dem vorherigen Leben, zum Beispiel dem eigenen Tod. Manche Kinder erinnern sogar ihren vollen Namen oder erkennen Familienmitglieder des vorherigen Lebens auf Bildern, die ihnen gezeigt werden. Es mag völlig absurd klingen, doch Dr. Tucker scheint keineswegs ein verirrter Räucherstäbchen-Fanatiker zu sein. Seine Untersuchungen entsprechen wissenschaftlich äußerst strengen Kriterien und seine Recherchearbeit ist umfassend.
In seinem Buch “Kinder erinnern sich” schreibt er von Fällen, die bis zum Familienstamm der vorherigen Identität zurückverfolgt werden können. Kinder erinnern sich manchmal an kleinste Details und können sogar mit vormaligen Verwandten, die heute steinalt sind, über gemeinsame Kindheitserlebnisse plaudern. Der Autor dokumentiert dies minutiös und glaubwürdig. Ob es wirklich stimmt weiß er freilich auch nicht, denn wie soll sowas final bewiesen werden?
Bis auf Ausnahmen hören Kinder im Alter von ungefähr sechs oder sieben auf, sich an ihr vermeintlich vorheriges Leben zu erinnern. Dr. Tucker sagt, dass es sehr belastend sei, auf Dauer mit zwei Seelen zu leben. Und so finden die Kinder in der Regel ihren Frieden mit der jetzigen Identität.
Wir verstehen sovieles nicht…
Bei meiner Großen verschwanden die nächtlichen Panikschreie auch mit der Zeit. Heute ist sie im Schulalter und wacht fast gar nicht mehr auf. Ich weiß nicht, was in ihr vorging damals, was sie verarbeitet hat. Die Medizin findet ja für alles eine Erklärung. Vielleicht war es also ein Nachtschreck, wie ihn ein Drittel der Kinder haben. Vielleicht haben aber auch so viele Kinder einfach Erinnerungen an früher. Wer weiß?! Ich finde es in jedem Fall spannend, darüber nachzudenken. Es gibt ja so Vieles da draußen, was wir nicht verstehen, wahrscheinlich nie verstehen werden. Und ohne meine Kinder hätte ich diese Erfahrung wahrscheinlich nie gemacht, dafür bin ich dankbar.
Ganz pragmatisch ist sie zudem goldwert für eine ganz bestimmte Situation: Wenn ich nun nachts geweckt werde, weil wieder eins der Kinder mal wieder wach ist, rege ich mich deutlich weniger auf. Irgendeine Erfahrung verarbeitet es nachts um drei, soviel weiß ich – vielleicht ja sogar eine aus seinem vorherigen Leben…
Horrorfilme schaue ich deswegen trotzdem nicht an 😉
Photo by Johannes Plenio on Unsplash
Danke Niels, sehr spannend!